Expedition und Verführung


Anmerkungen zur (Im-)Materialität der technischen Bilder

 

Eine belebte Stadt ist eine beleuchtete Stadt. Ein Bordell ist ein Ort mit roten Laternen.

Aus der Perspektive des Astronauten sind menschliches Wirken und Schaffen, Glück und Elend auszumachen an den Illuminationen menschlichen Daseins.

So will es jedenfalls der Mythos.

Die „family of man“ beruhigt sich an der Gewissheit, dass „da draußen“ schon noch etwas sei. Lichter in der Finsternis. Doch da seit alters her nach Bestätigung und dauerhaftem Zeugnis gestrebt wird, brauchte die belichtete Welt ihre handliche und private Entsprechung.

So wurde aus der Illumination das belichtete Negativ. Ein wenig Lug und Trug (Retusche und „Fälschung“) von Zeit zu Zeit, oder die Erfindung des Fernsehens, das seinen Erfolg nahezu ausschließlich der Inszenierung und nicht etwa der Dokumentation verdankt, konnten das Glaubenwollen kaum trüben.

Mit der massenhaften Umwandlung von Bildern in diskrete Einheiten und der zunehmenden Verbreitung von bildbearbeitungsgeeigneter Hard- und Software ließ sich auch im häuslichen Arbeitszimmer nicht länger leugnen, dass Bilder Informationseinheiten sind, für die die Kategorien Moral und Authentizität keine Gültigkeit besitzen.

Gleichzeitig stellt die nahezu grenzenlose Wandelbarkeit und Reproduktionsfähigkeit des digitalen Bildes, erneut die Frage nach der Einzigartigkeit des gestalterischen Werkes.

Die Apologeten der technischen Reproduzierbarkeit seien jedoch darauf hingewiesen, dass die Vervielfältigung der Bilder traditionell ihre Hauptrolle in der professionellen Verwertung und Vermarktung spielte und den Alltagsbereich kaum berührte. Tatsächlich blieb das Erinnerungsfoto ein mehr oder minder behütetes „de facto Unikat“.

Erst die Veränderung und Vervielfältigung per Mausklick sorgt für eine Popularisierung der Erkenntnisse, die bereits aus der Verbreitung der Fotografie gezogen werden konnten.

Doch ist der Hinweis zwingend, dass Reproduzierbarkeit auch hier ein Kriterium der Bildverbreitung und nicht etwa der Bilderzeugung ist.

Ähnlich wie sich das fotografische Bild durch weitere manuelle Eingriffe als Unikat behaupten kann, existieren vergleichbare Bildbearbeitsmöglichkeiten auch für digital erzeugte Bilder.

So bleibt das digitale Bild in der Tradition seiner technischen Vorläufer.

Die Digitalisierung ändert also nicht das Wesen des technischen Bildes, sondern erzeugt eine neue Phänomenologie seines Gebrauchs.

Qualität und nahezu grenzenlose Quantität der Bilder liegen nun in den Händen des Operators. Der Rausch der Bilder, begonnen mit der Erfindung der Fotografie, erfährt nicht länger eine Beschränkung der Verfügbarkeit.

Der Anschluss an die globale Datenmenge erzeugt den ständigen Klang der Sirenen.

Nicht Überlegung, sondern Begierde und Verführung steuern die technische Entwicklung.

Analog zur Verbreitung des Videorekorders betreiben die Websites mit den Kürzeln

„www.sex.“ das Anwachsen der verfügbaren Datenmengen und nicht etwa politische Programme. Ähnlich wie die Erfindung des Transistors und nicht die des Computers, den Beginn der dritten industriellen Revolution markiert, führt die Frage nach dem Wesen des digitalen Bildes zurück zum Nachdenken über das fotografische Bild.


Fotografie, der klassische Topos des technischen Bildes, ist ein intentionaler Akt (Husserl)1 ihre Objekte sind die Gegenstände auf die sich das psychische Erlebnis richtet. Sie ist ein Medium im reinen Sinne, d. h. sie fungiert als Tunnel, durch den sich das kreative Subjekt in die auf der anderen Seite vermutete Welt transportiert. Auf der anderen Seite der Tunnelröhre (ihrem Ende?, ihrem Anfang?), Repräsentanten ihrer Selbst, im Glauben die Welt zu informieren.

Das Modell ist linear angelegt, es orientiert sich an Entfernungsdifferenzen. Die Fotografie behauptet einen realen Entfernungsabstand zu dokumentieren, registriert jedoch nur die kommunikativen Distanzen (die des Interesses, des Wissens, der gesellschaftlichen und individuellen Konstituierungen). In ihrem Bestreben zu informieren, schafft sie erst die Sichtblenden zwischen den Körpern im gleichen Raum.

Die Protagonisten an den vermuteten Enden des Tunnels gehen, blind und taub, im gleichen Tunnel aneinander vorbei.

Die Beteiligten ersten Grades der Fotografie, die Fotografen, die Fotografierten (der Beteiligte zweiten Grades wäre der Rezipient), versetzen die Protagonisten des Höhlengleichnisses2 in ihren Ereignisraum.

Fotograf und Fotografierter sind die befreiten und vor den Eingang geführten Höhlenbewohner, doch wenden sie den Blick zurück auf die Schattenspiele der Höhlenwand; die neuen Erscheinungen, deren Identität erschlossen werden müsste, interessieren nicht.


Die Fotografie ist kein weiteres Medium infolge der Malerei, sie begründet eine neue Welt der technischen Bilder.3 Barthes weist zu Recht darauf hin, dass der Chemie eine größere Bedeutung bei der Erfindung der Fotografie zukommt als der Malerei.4

Folgt man der Körperbezogenheit seines Referentenbegriffs, geht er richtigerweise von einer „Emanation des Referenten“5 bei der Belichtung der Silbersalze aus.

Wesentlicher scheint jedoch die physikalische Komponente im Entstehungsprozess des fotografischen Bildes zu sein. Die Chemie insistiert auf einem Materiellen (die licht-empfindlichen Schichten, das Fotopapier, der Entwickler etc.), das Licht als Information verbleibt im Magisch-Ästhetisierenden. Die fotografische Bilderzeugung als einen chemischen, steuerbaren Prozess zu begreifen, verweist auf alchimistische Prinzipien. Die Physik spricht von der Ordnung der Welt, in ihrem Sinne folgen die Bilder aus den molekularen Strukturen energetischer Strahlung, sie ist objektiv, da nicht steuerbar.

Veränderungen sind mit Begriffen versehen (z. B. Verschmelzung, Spaltung), die auf eine Zerstörung der Ordnung verweisen. Eine Veränderung, in der der fotografische Prozess nicht besteht; Strahlung jenseits des Spektrums des sichtbaren Lichts, führt entweder zu keinem sichtbaren Resultatoder zur vollkommenen Schwärzung, zur Hyperinformation.

Die Fotografie ist also weniger ein Vorgang der Weltbelichtung6 als derjenige der Beleuchtung7.


Die Fotografie ist ein Medium der Ordnung. Ihr zu vertrauen fällt leicht, ist sie doch an die Ordnung der Welt gebunden und entsteht durch Apparate, die so sind wie sie, d. h. objektiv; ihr Sinn ist die Ausschaltung der subjektiven Störung.

Die gesamte Entwicklung der fotografischen Apparate weist auf dieses eine Ziel hin, lag der Innovationsschwerpunkt anfänglich auf der genaueren Wiedergabe zugunsten der Entscheidung des Fotografen für einen bestimmten Wiedergabeausschnitt, orientiert sich die Entwicklung heute an der Ablösung des Fotografen.

Der Apparat perfektioniert sein intendiertes Programm der Automatisierung, sei es durch technische Innovation oder durch Gewöhnung.8

In der Konsequenz wechselt der Operator der technischen Bilder die Seiten, er findet sich in der Welt wieder; jedoch in der gleichen Form wie diese vormals im Operationsfeld seines Apparats, als Reihung cartesianischer Begriffe. Er verschwindet, vergleichbar mit dem Gang durch den Zauberspiegel ins Wunderland9, er geht ein in die Molekularstruktur der Ordnung.

Beispiele sind die automatischen Überwachungskameras, die durch die vorhandene Lichtmenge gesteuerten Straßenbeleuchtungen10 und die operativen Anweisungen der Systeme beim Abtauchen in den Cyberspace; keine der genannten Organisationen bedarf einer humanen Steuerung, letztere fungiert sogar als Lenkungsinstanz.


Die Fotografie, wie die ihr verwandten technischen Verfahren, wurde nicht erfunden, um Bilder zu erzeugen, sondern um Bilder einzufangen und zu sammeln. Sie ist Resultat der Überzeugung, dass es keiner Bilderfindungen bedarf, dass schon alles vorhanden ist.

Sie ist nicht an idealen Bildräumen interessiert, sondern daran, Verbindung zur Welt zu sein - eine cartesianische Versuchsanordnung.

Die Fotografie ist das Medium eines idealen geschlossenen Systems, auf ihren Produkten gibt es nichts zu entdecken, das es nicht auch sonst zu sehen gäbe, und umgekehrt.

In ihr treffen absoluter Realitätsglaube und vollständiges Weltkonstrukt in reiner Form zusammen.

Die alphabetischen Systeme, Sprache und Schrift, beharren auf der Virtualität ihrer Referenzen, ihre Differenz ist nicht wirklich zähmbar. Der digitale Code gefährdet zwar die Ambivalenz der Schrift, greift aber nicht unmittelbar in die Gewohnheiten der Sprache ein.

In der Fotografie hingegen weiß man um die richtige Bedeutung.

Sie ist die Sonne und der Schatten.

In ihr fallen die drei Ankreise des semiotischen Dreiecks zusammen. Sie repräsentiert ein Reich des Glaubens und der Magie, einer Magie jedoch, die um das Spiel betrogen ist.


Die Fotografie macht auf ihren Expeditionen keinen Unterschied zwischen der Welt des unmittelbar Sichtbaren und der Welt der kleinsten Teilchen.

Sie vertraut auf die Teleoptik, auf das Heranholen der Dinge, auf das genaueste Sehen.

Neben der „chemischen Perspektive“ und der Betrachtung der Quantenströme (, die sich auf den fotografischen Apparat zubewegen,) lässt sich die Geschichte der Fotografie auch als Entwicklungsprozess der erreichbaren Vergrößerungsmaßstäbe der optischen Geräte lesen.

Setzt man makro- und mikroskopische Positionen gleich, wird auch der Unterschied zwischen Einsicht und Aufsicht aufgehoben, auch in der Illusion des Hineinsehens (Daruntersehens) liegt der Blick an der Oberfläche des Objekts.

Der tele-optische Blick kultiviert die paradoxe Hoffnung, die Folien der Oberflächen ließen sich „abziehen“, unter ihnen wäre ein substantiell Eigentliches.

Jeder neue Blick enttäuscht die Erwartungen. Mikroskopie und Teleskopie bilden die Scheidewände des Dinglichen, jenseits des Auflösungsvermögens der Objektive beginnt das Reich der Elektronen.

Das Vorgehen bei der Suche nach den kleinsten Teilchen und den entferntesten Welten enthält das stille Eingeständnis, sich jenseits der Welt des Sichtbaren zu bewegen.

Dort liefern die Apparate abstrakte Zeichen als Folge des Wechselspiels der Elementarteilchen. Die Signale finden ihren Platz in den Anordnungen der Formeln.

Ihre Glaubwürdigkeit beruht gerade darauf, nicht vorstellbar zu sein.11 (In gewisser Hinsicht bringen diese Verfahren das Geheimnis zurück, im beschriebenen Sinne ist Unsichtbarkeit Synonym für die Rätsel, eine Art „Blinde Kuh“-Spiel.) An den Grenzen des Visuellen erobert die Form ihren Rang zurück.

Durch den Abstand zum Makroskopischen entsteht eine Differenz zwischen Form und Bedeutung, letztere erscheint auch systemimmanent, nicht an die Form gebunden.

Das mikroskopische Bild auf dem Objektträger erzeugt nicht zwingend die ihm zugeschriebene Bedeutung im Kontext der Biologie oder Medizin. Es sucht sich mögliche Bedeutungen.

Die Limitierung der potentiellen Sinnzusammenhänge ergibt sich aus der Begrenztheit und Wiederholung der Formelemente; am deutlichsten wird sie in der Analogie zur Struktur der Fraktale, die Kombination erscheint zwar variantenreich, die Wiederholung der identischen Einzelelemente dominiert jedoch alle Variationen. Es handelt sich um reine Formen, sie sind in der Wiederholung endlos denkbar, ohne der Möglichkeit ausgesetzt zu sein, in der Isolierung Bedeutung anzunehmen.

Bedeutung kann ihnen als ästhetisches Ereignis, nur im Informationszusammenhang zugesprochen werden, nicht jedoch in ihrer Materialität.

Sie sind das Beispiel einer traurigen Ästhetik.

Die beschriebenen Prozesse sind die der Entzauberung; könnte eine ähnliche Strategie, ein ähnliches Lösen der Form vom determinierten Inhalt, nicht auch eine Strategie der Verzauberung begründen? Was wäre zu tun?

Die Erwartungen müssten zerstört und Kategorien vertauscht werden.

Das mikroskopische Bild ist auch außerhalb des Apparats wiederholbar, selbstverständlich handelt es sich nicht um eine Simulation, eine Erscheinung ist nicht simulierbar.

Entscheidend ist der Unterschied zwischen einem, an die Vorrichtung gebundenen, mikroskopischem Bild und seinem Äquivalent außerhalb des Apparats.

Etwas muss sie unterscheidbar machen.

Die Unterscheidung liegt in den unterschiedlichen Orten des Ereignisses, ihre Referenten sind andere. Das mikroskopische Bild außerhalb seiner Apparatur, ist ein makroskopisches Bild, das ein Mikroskopisches unzureichend nachahmt. In den Störungen, in der Diffusion der Orte, liegt die Verzauberung.

Im Bereich der elektronischen Teleskope sind die Orte definiert, das Dort ist ein Fernes.  

Seine Wahrnehmung ist jedoch weniger am Aufwand zur Überwindung der Distanz orientiert als an seiner Semantik. Die Ferne wird nicht durch seine Überwindung näher.

Die Distanz bildet um so mehr den Mittelpunkt der Wahrnehmung, je aufwendiger die Versuche zu ihrer Negation geraten.

Das teleskopische Bild unterscheidet sich von seinem mikroskopischen Äquivalent durch seine Unberührbarkeit.

Es bleibt immer ein Zeichen des Anderen.

Die Sternbilder sind nicht integrierbar, denn Integration ist nur dort möglich, wo die Überzeugung von Vertrautheit vorhanden ist, das Objekt muss in den Kanon des Kulturellen eingetreten sein.

Die Zentren der teleskopisch-technologischen Potenz sind Orte der Anbetung.

Der Science-Fiction-Film ist das moderne Mysterienspiel, in ihm wird nicht technologische Potenz demonstriert, sondern das Spiel des Fremden inszeniert.

Der Technik kommt meistens dann die entscheidende Rolle zu, wenn sie ihr Programm erfüllt, d. h. sich gegen den Menschen richtet.12

Wie im Vorhergehenden beschrieben, konzentriert die Fotografie ihre ganze Energie auf die Bestätigung des Wahren, ist ständig um die Nivellierung des Ambivalenten, des Phantasmas bemüht. Die Geschichte der fotografischen Entwicklung ist die der präziseren Wiedergabe, der hyperrealistischen Orgie. In ihrem hypostatischen Wahn zerstört sie ihr Objekt, macht erfahrbare Realität zunichte.13

Wenn es zum Wesen der Verführung gehört, dass sie uns über ihren wahren Aufenthaltsort im  Unklaren lässt, ist der Hyperrealismus ihr Todfeind. (Baudrillard bezeichnet sie zu Recht als „List der Welt“14.)

Dennoch fügt die Fotografie ihren hysterischen Apologeten eine entscheidende Niederlage zu; ein fotografisches Bild ist in seiner Vollständigkeit zu handhaben, es ist von seinem Referenten ablösbar, d. h. in Ort und Zeit variabel. Die Relation des fotografischen Bildes ist unscharf.

In der Behauptung seiner Virtualität liegt es im Kampf um sein Imaginäres immer vor den Anmaßungen seiner Operateure. Um so mehr es von seiner Autonomie und seinem Anderen zurückgewinnt, wird es zur Bühne des subjektiven Geschehens, zur Bühne des Autobiographischen, voll von individueller Symbolik.

Es gewinnt sein Geheimnis zurück, stellt sich den Agenten der Ordnung entgegen und kehrt in das Reich der Zeichen zurück.

Hier, in der Fluoreszenz des Scheins, liegen die Orte der Verführung; seien sie analog oder digital.


1   Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, 2. Bd., zit. n.: Peter Prechtl: Husserl zur Einführung,

     Hamburg 1991, S. 35ff.


2   Platon: Politea, in der Übers. v. Friedrich Schleiermacher, zit. n.: Bernd Busch: Belichtete Welt, München,

     Wien 1989, Kap. 1.


3   Vgl. Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1985; - Ders.: Für eine Philosophie

     der Fotografie, 3. Aufl., Göttingen 1988.


4   Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1985, S. 90.


5   Ebd.


6   Vgl. Busch: Belichtete Welt, a. a. O.


7   Vgl. Paul Virilio: Rasender Stillstand, München Wien 1992.


8   Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, a. a. O., S. 50.


9   S. Lewis Carroll: Alice in Wonderland, 1865.


10  Vgl. Virilio: Rasender Stillstand, a. a. O.


11  Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, a. a. O., S. 9-12.


12  Stanley Kubrick, 2001 - Odyssee im Weltall  USA Großbritannien 1968 MGM.


13  Wunder der Erde, ARD, 14.03.1994


14  Jean Baudrillard: Von der Verführung, München 1992, S. 45.


Der obige Text ist erstmalig im Katalog zur Ausstellung  „Kunstpreis 1998 Digitale Bildwelten“ im Jahr 1999 erschienen und wurde vom Autor behutsam neu redigiert.

Jörg Zimmer: Expedition und Verführung, in „Kunstpreis 1998 Digitale Bildwelten“, Katalog, Recklinghausen 1999.